Jan 072016
 

El Circo Ambulante

El circo ambulante
El circo ambulente ist ein kleiner Zirkus – ich meine wirklich sehr klein.
So ein Flohzirkus ist etwas, das es zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts in der ecuadorianischen Provinz noch recht häufig gab. Er bestand im Wesentlichen aus einem hölzernen, uralten Zirkuswagen und einem, wie sich denken lässt, winzigen Zirkuszelt – beides in den buntesten Farben bemalt, wie es sich für einen richtigen Schaustellerbetrieb gehört.
Ja und da waren natürlich die Personen, die Stars und Macher dieser kleinen Welt: Don Zapato, der Zirkusdirektor mit großem schwarzen Schnurrbart, abgewetztem Frack und verbeultem Zylinder. Ein stolzer Mann, dessen Augen voller Charme und ansteckender Lebensfreude nur so blitzten. Die zweite im Bunde ist Muchacha, seine treue Begleiterin und die Seele des Zirkus, die aussah wie ein Hund, in dem alle Hunderassen dieser Welt zu einem wunderschönen Tier verschmolzen schienen, mit einem blauen und einem braunen Auge und mit einem Fell, so vielfarbig wie der Zirkus selbst. Und dann gab es natürlich die Artisten, einen ganzer Clan von kleinen Flöhen. Die konnten die unglaublichsten, verrücktesten Tricks vorführen, da sie für ihre Größe unheimlich stark waren, außergewöhnlich gut springen und geschickt werfen konnten – viel besser als wir Menschen. Ach weißt Du, es ist schon ganz richtig eingerichtet, dass Flöhe nur so klein sind. Okay, man braucht schon gute Augen, um die Kunststücke genau verfolgen zu können, aber andererseits sind diese Tiere wirklich fürchterlich hässlich, geradezu erschreckend. Und wenn Du mal gesehen hast, wie sie mittags alle auf dem Arm von Don Zapato weideten, um ihm etwas von seinem Blut, ihrer Lieblingsspeise, abzusaugen, dann weißt Du, was ich meine. Ansonsten, so kann man getrost zugeben, waren die Flöhe ein ganz vergnüglicher Haufen. Für unser Aussehen können wir ja alle eigentlich erst mal nichts, oder?
So zog der Zirkus von Dorf zu Dorf und von Jahreszeit zu Jahreszeit. Er brachte den Menschen, wo immer er gastierte, für eine kurze Zeit ein Stück zauberhafte Illusion, kraftvolle Traumbilder, Momente wie aus ‘Tausend und einer Nacht’. Wenn Don Zapato in seiner allabendlichen Vorstellung die Kinder mit seinen Späßen und Zauberkunststücken in, wie er es nannte, „Große-Augen-Zustände“ versetzte, dann war es, wie es in einem richtigen Zirkus sein soll. Bei seinen Flohdressuren und clownesken Auftritten hatte er sich oft geschminkt und sich dabei Muchacha zum Vorbild genommen: Die beiden Flecken rund um die Augen, die lustige Mähne und die hübsche Zeichnung um die Schnauze herum, die aussah wie ein breites, freundliches Grinsen. Und so erschienen die beiden manches Mal wirklich wie ein Paar – was sie ja auch waren.
Eines schönen Tages nun, als Muchacha in Hitze geriet und sich Hals über Kopf in den stärksten Rüden verliebt hatte, der ihr je begegnet war, verschwand sie für eine ganze Nacht, die Nacht ihres Lebens. Sie wurde trächtig und gebar eine rechte Zeit später genau zwölf quietschfidele Welpen, mehr als je eine einzelne Hündin zur Welt gebracht hat. Don Zapato geriet dadurch in einen großen Gewissenskonflikt. Es gab zunächst weder genug Platz für so viele Tiere, noch konnten sie es sich finanziell leisten, alle kleinen Hunde mit durchzuziehen. Als er aber schweren Herzens Hand an auch nur eines der Jungen legen wollte, biss Muchacha ihn und knurrte ihn an – wohl das einzige Mal überhaupt. Und in ihren verschiedenfarbenen Augen sah er, dass es keine Wahl gab.
So kam es, dass nach einigen Mühen aus einem Flohzirkus ein Hundezirkus wurde.
Die jungen Hunde waren alle so unterschiedlich und es sah keiner wie der andere aus, als ob sie gemeinsam zeigen wollten, welche verschiedenen Hunderassen sich in ihrer Mutter vereinigten. Sie wurden die Attraktion des Zirkus. Jeder von ihnen musste von vornherein eine Aufgabe erfüllen. Das war der Pakt zwischen Muchacha und Don Zapato für das Leben jedes einzelnen Tieres. Die Flöhe setzten sich derweil auf den Pelzen der Hunde bereitwillig zur wohlverdienten Ruhe.
Ach, ihr hättet sie sehen sollen. Einer, der erstgeborene Rüde, war so stark, dass er mit seinem breiten Gürtel und Pomade im Fell den Kindern zeigte, wie er schwere Gewichte mit Pfoten oder Schnauze heben, werfen und tragen konnte. Ja, sie konnten sogar auf ihm reiten.
Ein anderer kleinerer Hund lernte zu sprechen wie die Menschen. Mit Monokel und Professorenhut gekleidet hörten die Kinder ihn auf Zapatos Frage: „Wie heiße ich?“ die Antwort sagen: „Wauwato!“ Na und er konnte noch einiges mehr, was ganz klar sprechen war, wo aber selbst der Don den Sinn nie recht begreifen konnte. Das ließ er sich aber überhaupt nicht anmerken.
Noch einer, der Graue, konnte gut singen und zusammen mit zwei taktsicheren anderen, die sich beide noch am ähnlichsten sahen und vornehmlich “las mellizas guapas” genannt wurden, bildeten sie die Kapelle des Zirkus. Sie hatten ein bemerkenswertes Repertoire einstudiert – auch ganz bekannte Stücke wie zum Beispiel „Wouh, Wouh, Wouh!“ von den ‘Beagles’.
Bald gab es mit der Hilfe des Hundes, der nähen gelernt hatte, ein neues, viel größeres Zirkuszelt und jede Menge phantastische Kostüme. Na zugegeben, eigentlich war es so, dass dieses Tier völlig vernarrt in die blonde Maria war, die eine Zeitlang mit Don Zapato lebte. Und während Maria kundig nähte, entging dem aufmerksamen Hund keine einzige ihrer Bewegungen. Wenn sie ihm ein Zeichen gab, zerrte er mal hier, mal dort an einer Ecke des Stoffes, bis Maria mit der Lage zufrieden war. Als sie dem Zirkusleben den Rücken kehrte, gab es wohl auf der Welt keinen zweiten Hund, der soviel vom Nähen verstand wie er.
Wieder eine andere Hündin sah so traurig und dabei doch liebenswert aus, dass sie von den Kindern gern gestreichelt wurde und auch immer ein wenig zu fressen von ihnen bekam.
Eine weitere war mit einem Gebrechen an der Hüfte zur Welt gekommen. Aber sie hatte eine so witzige Art, dass jeder sie als Maskottchen sofort ins Herz schloss.
Noch eine junge Schwester war derart verspielt und lebhaft, dass sie mit den Kindern stundenlang herumtollen und eine Menge Spaß verbreiten konnte.
Die Artisten unter den jungen Hunden konnten Saltos und dergleichen, führten halsbrecherische Drahtseil- und verblüffende Jonglage-Nummern vor.
Ein letzter von ihnen sah wirklich ziemlich schlimm aus, eine grobschlächtige, furchteinflößende Kreatur. Die Flöhe mochten ausgerechnet ihn von Anfang an am liebsten. Er wurde vom Zirkus zum Schutz und zur Abschreckung unliebsamer Besucher eingesetzt, als sei er dazu geboren. Er trug ein breites, schwarzes Lederhalsband mit dicken Nieten.
So war die ganze Truppe ein eingespieltes Team mit bunten, eigenwilligen Trachten und spektakulärem Gehabe und Aussehen, was der Tradition des Schaustellergewerbes alle Ehre machte – ja, diese eigentlich mit geprägt hat. Diese kleine Welt zog selbstvergessen ihre Kreise: Um das Leben von Dorfbewohnern und deren Kindern, um Sonnenschein und Regen, Sturm und Flaute, um Frühling, Sommer, Herbst und Winter, um Tag und Nacht. Scheinbar unmerklich verstrich die Zeit. Aus den jungen Hunden wurden Ausgewachsene; aus Muchacha und dem Don Alte.
Eines Nachmittags endlich trug es sich zu, dass der Zirkus auf einer schier endlosen Strecke zwischen zwei Dörfern an einer Anhöhe zum Stehen kam. Der Motor des bunten Wagens, der schon seit sehr langer Zeit sehr alt war, stotterte, qualmte, röhrte ein letztes Mal mit Getöse und verstummte dann. Don Zapato wusste sofort, dass es diesmal wirklich zum allerletzten Mal war. Der alte Mann stieg umständlich vom Bock und schlurfte, nachdem er Muchacha aus dem Führerhaus gehoben hatte, nach hinten und legte sich in seine Koje, die alte Hündin auf ihrer Decke zu seinen Füßen. Beide tauschten einen langen, wissenden Blick miteinander, während sich die zwölf Hunde lautlos um die Bettstatt versammelten. Sie waren ein wenig verwirrt, aber auch neugierig, denn es herrschte eine merkwürdig intensive Atmosphäre in diesem Moment, so wie sie es noch nie gekannt hatten. Ein unbeschreiblicher Friede hüllte die ganze Szene ein in das verheißungsvolle Licht der einsetzenden Dämmerung. Die Stille wirkte bedeutungsschwanger. Etwas Wichtiges, Unbekanntes wollte geschehen.
Sowohl der alte Zirkusdirektor, als auch Muchacha sprachen Worte der Liebe zu den Jungen, letzte Worte, die wie ein geistiges Erbe waren, bevor der Frieden sie beide gemeinsam, und für dieses Mal nicht mehr verließ. Draußen war es jetzt richtig dunkel. So blieben die Zwölf mit den beiden Toten allein zurück – voll Trauer und Schmerz. Angst und Verwirrung schlich sich in ihre Herzen und als es längst tiefe Nacht geworden war, saßen sie draußen vor dem Wagen wie in Trance. Was sollten sie nun bloß tun?
Mit einem Mal wurde ihnen klar, dass nicht nur die Alten, sondern auch sie selbst von einem Augenblick zum nächsten in eine andere, neue Welt hinüber gewechselt waren – ohne, dass sie irgend etwas dazu getan hätten, geschweige denn, es sich ausgesucht. Und während der volle Mond über der Ebene seinen Glanz entfaltete, hörten sie noch einmal vor dem inneren Ohr die Worte tiefer Weisheit, die wie zu jedem einzelnen von ihnen gesprochen worden waren.: „No te preocupes, hija mia y hijo mío, sino abre el corazón y tu mente. Mira al interior con confianza. Las respuestas a todas sus preguntas estan esperando pacientemente dentro de ti. Ya han estado todo el tiempo cerca de ti, durante toda tu vida.“
Und nach einer Weile, wie auf ein stummes Zeichen hin, begannen die Jungen, ihre Kostüme Stück für Stück abzulegen, sich die Schminke gegenseitig aus dem Fell zu lecken, die Frisuren abzuschütteln und aus ihrer Trance zu erwachen. Zunehmend meldete sich Hunger und plötzlich witterten ihre feinen Nasen aufregende Gerüche. Ihre Augen und alle sieben Sinne wurden der Umgebung gewahr. Sie befanden sich inmitten der Wildnis, auf einer Anhöhe mit Blick in ein von Menschen unberührtes Tal. Ganz allmählich wendeten sich die ersten vom Zirkuswagen ab und nahmen, wie im Spiel, die Fährte anderer Tiere auf. Daraus entwickelte sich nach und nach ein Tollen und Bellen und Jagen. Sie machten die erste eigene Beute ihres Lebens.
Darüber war es spät geworden und kalt. Die Meute fand sich an einem sicheren Platz ein, direkt zwischen den Felsen im Tal. Dort schliefen sie alle zusammen gekuschelt, um sich gegenseitig zu wärmen und zu trösten, so wie sie es nicht gebraucht hatten, seit sie Welpen waren.
Und so waren sie bereits in dieser ersten Nacht ein gutes Stück zu dem geworden, was sie natürlich schon immer waren – nämlich Hunde.
Noch viele Jahre, nachdem jedes einzelne Tier seinen Weg gegangen war (das steht aber auf einem anderen Blatt.), trafen sie sich noch manches Mal am Fuße genau jener Anhöhe, die der Zirkus damals nicht mehr geschafft hatte. Und in endlosen Vollmondnächten führten sie sich in festlicher Runde noch mal das ein oder andere artistische Kunststückchen vor – einen Kraftakt, einen Salto, die Tänze und die alten Gesänge – zu Ehren von Muchacha und Don Zapato, ihren Eltern.

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